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2. Inanspruchnahme und Adressat:innen der erzieherischen Hilfen

2.1 Entwicklungen bei der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen

Ende 2023 hat das Statistische Bundesamt die Daten zu den Hilfen zur Erziehung 2022 veröffentlicht. Demnach wurden rund 990.440 erzieherische Hilfen für unter 27-Jährige gezählt – rund 32.800 Fälle (+3%) mehr als im Vorjahr (ohne Abb.). Damit ist die Zahl dieser Unterstützungsleistungen nach einem starken Rückgang im Jahr 2020 und einer Stagnation 2021 erstmals wieder angewachsen. Der kontinuierliche Anstieg der Hilfezahlen im letzten Jahrzehnt, bei dem 2018 sogar die 1 Million-Grenze überschritten wurde, setzt sich allerdings (bislang) nicht in der Deutlichkeit fort.

Der Blick auf die mit den Hilfen erreichten jungen Menschen – zuvor wurde die Entwicklung der Fälle bzw. der Anzahl der Hilfen betrachtet – offenbart eine größere Steigerung gegenüber 2021 (vgl. Abb. 2.1): Im Jahr 2022 wurden 4% mehr junge Menschen (insg. 1.168.716) mit erzieherischen Hilfen erreicht; das sind rund 41.000 mehr als im Vorjahr. Das liegt daran, dass die Anzahl der erreichten jungen Menschen bei den beiden familienorientierten Hilfen – Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) und familienorientierte „27,2er-Hilfen“ – stärker gestiegen ist als die Anzahl der Hilfen. Bei der SPFH sind die Fallzahlen sogar erstmalig zurückgegangen (-1%)1. In absoluten Zahlen ist zwar insgesamt ein neuer Höchststand bei den erzieherischen Hilfen gemeldet worden, nicht jedoch bevölkerungsrelativiert (vgl. Abb. 2.1). Danach wurden 2022 – statistisch betrachtet – 700 junge Menschen pro 10.000 der unter 21-Jährigen mit Hilfen zur Erziehung erreicht; d.h. 7% der jungen Menschen dieser Altersgruppe haben eine Art von erzieherischer Hilfe erhalten. 

Mit Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre fällt vor allem der zwischenzeitliche Rückgang in den „Coronajahren“ 2020 und 2021 auf, der sich 2022 wieder ausgeglichen hat. Dass diese Schwankung vor allem auf die Erziehungsberatung zurückzuführen ist, wird deutlich, sobald man nur die Hilfen zur Erziehung betrachtet, die über den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) organisiert werden. In diesen wurden 2022 seitens der Jugendämter 695.771 junge Menschen gezählt. Das sind etwa 0,3% mehr als im Vorjahr. Nach einem leichten Rückgang in 2020 stieg die somit die Zahl der erreichten jungen Menschen in den über den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) organisierten Hilfen (ohne Erziehungsberatung) in 2021 und 2022 wieder leicht an.

Für den Zeitraum zwischen 2010 und 2022 betrug der Zuwachs der jungen Menschen in Hilfen zur Erziehung (ohne Erziehungsberatung) 30%. Der Anstieg zwischen den Jahren ist zwischen 2015 und 2016 mit 5% am höchsten, darüber hinaus wurden Veränderungen zwischen +1% und +4% beobachtet.

Werden die jungen Menschen nach Minderjährigen und jungen Volljährigen differenziert, so zeichnen sich unterschiedliche Entwicklungen in der Inanspruchnahme von Erziehungshilfen ab. Deutlich wird das in der Betrachtung der Inanspruchnahmequote beider Altersgruppen, bei der die Fallzahlen auf die Zahl der jeweiligen jungen Menschen in der Bevölkerung bezogen werden. Während bereits seit 2018 die Inanspruchnahme von Hilfen für junge Volljährige zurückgegangen ist und im Jahr 2022 weiter zurückgeht, hat sich die Inanspruchnahme bei Minderjährigen nach einer Stagnation im Vergleich zum Vorjahr wieder um 11 Inanspruchnahmepunkte erhöht.2 Bei Betrachtung der bevölkerungsbezogenen Entwicklung in den „ASD-Hilfen“ – also Erziehungshilfen ohne Erziehungsberatung – muss für die jungen Volljährigen ebenfalls ein Rückgang konstatiert werden (-22 Inanspruchnahmepunkte). Dieser rückläufige Trend seit 2017 ist unter anderem auf ehemalige unbegleitete ausländische Minderjährige zurückzuführen, die nach der starken Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 mit zunehmendem Alter das Jugendhilfesystem wieder verlassen3. Auch bei den unter 18-Jährigen ist die Inanspruchnahmequote bei den „ASD-Hilfen“ in 2022 erstmals seit Jahren gesunken. Das liegt daran, dass zwischen 2021 und 2022 der bislang stärkste Anstieg der unter 18-Jährigen in der Bevölkerung (+3%) seit Jahren zu beobachten ist – das dürfte auf die Zuwanderung vieler Geflüchteter aus der Ukraine und anderen Ländern zurückzuführen sein.4

ABB. 2.1:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) (Deutschland; 2010 bis 2022; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Steigende Fallzahlen bei Erziehungsberatung und ambulanten Hilfen, rückläufige Fallzahlen Fremdunterbringung

Die Verteilung der Leistungssegmente hat sich im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr leicht verändert. Das Segment der über die ASD organisierten ambulanten Hilfen (§ 27 in Verbindung mit den §§ 29-32, 35 SGB VIII inklusive der „27,2er-Hilfen - ambulant“ sowie einschließlich der entsprechenden Hilfen für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII) umfasst 2022 mit insgesamt 483.949 erreichten jungen Menschen weiterhin den größten Anteil an Hilfen (41,5%). Der Abstand zum zweitgrößten Segment der Erziehungsberatung (40,5%) hat sich jedoch gegenüber 2021 deutlich verkleinert. Das dritte Leistungssegment der Fremdunterbringungen hat mit 211.822 erreichten jungen Menschen im Jahr 2022 einen Anteil von 18% am Gesamtvolumen. Diese absoluten Zahlen der Leistungsbereiche schlagen sich auch bei der Inanspruchnahmequote nieder. Im Jahr 2022 nahmen 290 pro 10.000 der unter 21-Jährigen eine ambulante Maßnahme in Anspruch. Bei den Fremdunterbringungen sind es mit 127 jungen Menschen pro 10.000 derselben Altersgruppe deutlich weniger. Beide Quoten sind im Vergleich zu 2021 leicht gesunken, was auf den starken Anstieg in der entsprechenden Bevölkerungsgruppe der unter 21-Jährigen zurückzuführen ist. Erziehungsberatung haben 283 junge Menschen pro 10.000 der unter 21-jährigen und deren Familien in Anspruch genommen.

Der Zuwachs bei den erreichten jungen Menschen im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr ist vor allem bedingt durch die gestiegenen Zahlen bei der Erziehungsberatung, die einen Ausgleich des zwischenzeitlichen Rückgangs in den Pandemiejahren darstellen (vgl. Abb. 2.2). Im Bereich der ambulanten Hilfen zur Erziehung setzt sich das Wachstum aus der Zeit vor der Pandemie – nach einem Rückgang in 2020 – im dritten Coronajahr wieder fort. Der prozentuale Zuwachs von etwa 1% knüpft jedoch nicht an die Wachstumsdynamik des Zeitraums zwischen 2015 und 2018 an (jährlich +5% bis +7%). Das hängt mit der Entwicklung bei den Fallzahlen sowie erreichten jungen Menschen in der SPFH zusammen, welche erstmalig in dem betrachteten Zeitraum zurückgegangen sind.5

Deutlicher ist die Steigerung der Fallzahlen in der Erziehungsberatung: Hier wurden 2022 etwa 9% mehr junge Menschen erreicht als im Vorjahr (+38.843 Fälle). Durch die Lockerungen der Kontaktbeschränkungen konnten wieder mehr Beratungen in Präsenz stattfinden. Gleichzeitig machen die seit dem Erhebungsjahr 2022 in der Statistik neu erfassten telefonischen Beratungen immerhin 31% des Anstiegs aus. Insgesamt wird diese Beratungsform jedoch in lediglich knapp 3% der Fälle durchgeführt, während mit 93% nach wie vor Erziehungsberatungen in Räumen eines ambulanten Dienstes bzw. einer Beratungsstelle stattfinden.6

Über die Fremdunterbringung wurden 2022 weniger junge Menschen erreicht als im Vorjahr (-2%). Somit setzt sich in diesem Leistungssegment der rückläufige Trend der Vorpandemiezeit seit 2018 weiter fort. Dieser ist zum Großteil auf die seit einigen Jahren rückläufigen Fallzahlen der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen insbesondere in der stationären Unterbringung zurückzuführen.

ABB. 2.2:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Leistungssegmenten (Deutschland; 2010 bis 2022; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Die bundesweite Entwicklung der erzieherischen Hilfen seit Beginn der 2000er-Jahre ist durch einen kontinuierlichen Zuwachs im ambulanten Leistungsfeld gekennzeichnet. Zumindest bis 2010 war ein Fortschreiten dieses Trends auszumachen. Danach war der Zuwachs bei den ambulanten Hilfen nicht mehr so stark ausgeprägt. Zwischen 2014 und 2016 haben dagegen vor allem Fremdunterbringungen zugenommen (vgl. Abb. 2.3):

  • Die Zahl der Hilfen zur Erziehung gem. der §§ 28-35 SGB VIII hat sich zwischen 2000 und 2022 um 57% bzw. 57 Indexpunkte erhöht (ohne Abb.). Der größte Anstieg innerhalb dieses Zeitraums liegt zwischen 2005 und 2010 mit einem Plus von 24 Indexpunkten. Generell sind die Inanspruchnahmen bis zuletzt kontinuierlich gestiegen. Nur die beiden „Pandemiejahre“ 2020 und 2021 bilden hier eine Ausnahme, in denen die Hilfezahlen um -7 bzw. -1 Indexpunkte zurückgegangen sind. 
  • Mit Blick auf die einzelnen Leistungssegmente wird zwischen 2000 und 2010 vor allem der Zuwachs an ambulanten Hilfen deutlich, die sich mehr als verdoppelt haben (+105 Indexpunkte). Von 2015 bis 2020 hat ebenfalls ein stärkerer Zuwachs um 36 Indexpunkte stattgefunden. Der Höchststand liegt in 2022 bei einem Indexwert von 263.
  • Bei den Fremdunterbringungen hat sich zwischen 2000 und 2010 der Indexwert mit dem Basisjahr 2000 um 10 Punkte auf 110 erhöht. Die größte Steigerung ist zwischen 2010 und 2015 mit +26 Indexpunkten zu verzeichnen. Zwar lag der Höchstwert mit 157 in 2017, fällt jedoch seitdem kontinuierlich ab. In 2022 liegt der Indexwert bei 135 Punkten (im Vergleich zum Vorjahr -2 Indexpunkte). Die zwischenzeitlichen Zunahmen der Fremdunterbringungen sind auf die gestiegene Zahl an unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (UMA) – vor allem in den Jahren 2015 und 2016 – zurückzuführen. Die Unterbringung sowie die Betreuung und Förderung dieser jungen Menschen wurde aufgrund ihrer Lebenssituation vor allem in stationären Settings der Kinder- und Jugendhilfe organisiert.
  • Die Fallzahlen in der Erziehungsberatung sind im Zeitraum von 2000 bis 2019 angestiegen, wobei zwischen 2010 und 2016 zwischenzeitlich ein leichter Rückgang von 5 Indexpunkten zu verzeichnen war. In den Jahren 2020 und 2021 reduzierte sich die Zahl der durch Erziehungsberatung erreichten jungen Menschen deutlich bis auf einen Indexwert von 102, also nur 2 % mehr als in 2000. Im Jahr 2022 hat sich die Anzahl der Erziehungsberatungen allerdings nach den zwei Pandemiejahren wieder erhöht, sodass der Indexwert von 113 nun nur noch 3 Indexpunkte unter dem Wert von 2019 liegt. 
ABB. 2.3:

Veränderung der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen gem. §§ 28-35 SGB VIII (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Leistungssegmenten (Deutschland; 2000 bis 2022; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Indexentwicklung 2000 = 100)1

1) Hinweise: Die Werte basieren auf der Anzahl der jungen Menschen, die durch eine Leistung der Hilfen zur Erziehung erreicht werden, und nicht auf der Anzahl der Hilfen. Dies betrifft die Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII). In der amtlichen Statistik werden für die Hilfen gem. § 31 SGB VIII sowohl die Anzahl der Hilfen als auch die durch die SPFH erreichten jungen Menschen erfasst. Berücksichtigt werden hier die unter 18-Jährigen, weil vor der Modifizierung der Statistik im Jahr 2007 lediglich die unter 18-Jährigen bei dieser Hilfeart erfasst worden sind. Bei der Erziehungsberatung werden lediglich die beendeten Hilfen berücksichtigt. Erst seit 2007 werden bei den Hilfen gem. § 28 SGB VIII auch die zum 31.12. eines Jahres andauernden Hilfen erfasst. Im Sinne der Vergleichbarkeit werden für 2010, 2015 und 2020 ebenfalls nur die beendeten Hilfen aufgeführt. Aus demselben Grund werden die Hilfen gem. § 27 SGB VIII (ohne Verbindung zu Hilfen gem. §§ 28-35 SGB VIII), die sogenannten „27,2er-Hilfen“, für diese Jahre nicht mitberücksichtigt; auch sie werden erst seit 2007 erfasst. Die Zahl der jungen Menschen mit einer „27,2er-Hilfe“ beträgt im Jahr 2022: 94.039. 
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Die Verteilung der Hilfearten im Angebotsspektrum der Hilfen zur Erziehung

Das Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung zeichnet sich durch ein breites Spektrum an beratenden, unterstützenden, erziehenden und betreuenden Angeboten aus. Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Angebote war Teil der damaligen zentralen Neuerungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor über 30 Jahren. In der Folge sind die Hilfezahlen seit Anfang der 1990er-Jahre gestiegen und die rechtlich kodifizierten Leistungen haben sich in den lokalen Hilfesystemen etabliert. Die aktuelle Verteilung der Hilfearten verdeutlicht das heterogene Leistungsspektrum der Hilfen zur Erziehung, welches sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert hat (vgl. Abb. 2.4):

  • Die prozentuale Verteilung der Hilfearten verweist auf die quantitative Bedeutung der Erziehungsberatung, die mit einem Anteil von 41% in 2022 einen großen Teil aller erzieherischen Hilfen ausmacht.
  • Der differenzierte Blick auf die ambulanten Hilfen zeigt das erhebliche Gewicht der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH). Aktuell werden 24% der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung von dieser familienorientierten Leistung erreicht. Mit deutlichem Abstand folgen mit rund 8% die ambulanten „27,2er-Hilfen“ sowie Erziehungsbeistandschaften, die 5% aller erzieherischen Hilfen ausmachen. Demgegenüber nehmen soziale Gruppenarbeit, Betreuungshilfen, Erziehung in einer Tagesgruppe sowie intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) mit anteiligen Werten, die zwischen 0,5% und 2% liegen, einen vergleichsweise geringen Anteil im ambulanten Leistungssegment ein.
  • 18% der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung lebten 2022 im Rahmen einer Fremdunterbringung in einem stationären Setting oder in einer Pflegefamilie. Zahlenmäßig verteilen sich die Fremdunterbringungen zu etwa 10% auf die Heimerziehung und zu 7% auf die Vollzeitpflege. Einen geringen Anteil von unter 1% nehmen stationäre „27,2er-Hilfen“ ein.
Abb. 2.4:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Hilfearten (Deutschland; 2022; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben in %, N = 1.168.716)

1) einschließlich der sonstigen Hilfen
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2022; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Die Inanspruchnahme nach Ländern

Mittels der Datengrundlage der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik lassen sich auch Differenzen auf der Ebene der west- und ostdeutschen Landesteile sowie der Länder abbilden. Dabei ist im Jahr 2022 Folgendes für die Leistungssegmente zu konstatieren (vgl. Abb. 2.5):

  • Erziehungsberatungen: Die bundesweite Verteilung der Leistungssegmente, bei denen Erziehungsberatungen den zweitgrößten Anteil an den Hilfen zur Erziehung ausmachen (vgl. Abb. 2.2), gilt auch für West- und Ostdeutschland. Differenziert nach Ländern zeigt sich diese Verteilung in 2022 auch für 10 der 16 Länder, bei den anderen werden Erziehungsberatungen am häufigsten in Anspruch genommen. Außerdem wird hier eine enorme Spannweite der Inanspruchnahme von Beratungsleistungen (Abb. 2.5) deutlich. In den westdeutschen Flächenländern reicht diese von 141 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Bremen bis hin zu 410 pro 10.000 der genannten Altersgruppe in Schleswig-Holstein. Das ist gleichzeitig der höchste Wert aller Länder. Auch die ostdeutschen Länder weisen eine erheblich unterschiedliche Inanspruchnahme der Erziehungsberatung von 170 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Mecklenburg-Vorpommern bis hin zu 342 in Sachsen auf. In den Stadtstaaten reicht die Spannweite von 141 pro 10.000 unter 21-Jährige in Bremen bis hin zu 343 in Berlin.
  • Ambulante Hilfen: In allen Ländern werden mehr ambulante Leistungen als Fremdunterbringungen in Anspruch genommen. In den westdeutschen Flächenländern reicht die Spannweite der ambulanten Leistungen von 174 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Bayern bis hin zu 519 in Bremen. Das ist gleichzeitig der höchste Wert aller Länder. In Ostdeutschland reicht die Spannweite der Hilfegewährung ambulanter Hilfen bevölkerungsbezogen von 232 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Sachsen bis hin zu 475 in Mecklenburg-Vorpommern.
  • Fremdunterbringungen: Eine vergleichsweise eher geringe Inanspruchnahme von Fremdunterbringungen ist in den westdeutschen Ländern Bayern und Baden-Württemberg (69 bzw. 81 pro 10.000 unter 21-Jährige) festzustellen. Demgegenüber ist im Stadtstaat Bremen (202) und in Sachsen-Anhalt (196) eine höhere Inanspruchnahme der Fremdunterbringung zu ermitteln, was auf eine höhere Problembelastung der Regionen hinweist. 
  • Die bevölkerungsrelativierte Inanspruchnahme der vom ASD organisierten erzieherischen Hilfen insgesamt (d.h. ohne Erziehungsberatung) ist in Bremen im Ländervergleich am höchsten, gefolgt von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern.
  • Bei Betrachtung des Verhältnisses von Fremdunterbringungen zu ambulanten Leistungen werden die Differenzen zwischen den Bundesländern ebenfalls offensichtlich. So liegt das Verhältnis einerseits in Sachsen-Anhalt bei 1 zu 1,6 und andererseits in Hamburg bei 1 zu 3,3. 
ABB. 2.5:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) (Länder; 2022; Aufsummierung der zum 31.12. des Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2022; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Zusammenfassung

Mehr als 1 Million Mal zählen die Jugendämter und Erziehungsberatungsstellen pro Jahr einen Fall der Hilfen zur Erziehung. In jedem einzelnen Fall sind die jeweiligen Hilfen eine Reaktion des Hilfesystems auf soziale Benachteiligungen bzw. individuelle Beeinträchtigungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen, die dazu führen, dass Teilhabe – oder konkreter: eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung – bei den einzelnen jungen Menschen nicht mehr gewährleistet ist. Damit erfüllt die Kinder- und Jugendhilfe einen wichtigen Teil ihres vom Gesetzgeber vor über 30 Jahren rechtlich vorgeschriebenen Handlungsauftrags.

Rückblickend sind Veränderungen stark verknüpft mit mittelbaren oder unmittelbaren Auswirkungen des SGB VIII sowie mit diversen Fachdiskursen, welche das Arbeitsfeld geprägt haben – beispielsweise eine in unterschiedlicher Intensität geführte Kinderschutzdebatte seit Mitte der 2000er-Jahre, die Diskussion um die Weiterentwicklung und eine zielgenauere Steuerung der erzieherischen Hilfen ab 2011 oder die aktuelle Umstellung hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Auch gesellschaftliche Anforderungen haben in den Erziehungshilfen ihre Spuren hinterlassen: Mitte des letzten Jahrzehnts gab es einen kurzfristig stark erhöhten Bedarf an Unterbringung, Versorgung und Betreuung von jungen Menschen, die unbegleitet nach Deutschland geflüchtet sind. Ebenso hat die Coronapandemie die Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe stark beeinflusst.7

Das Feld der Hilfen zur Erziehung steht aktuell vor vielfältigen Herausforderungen. Mit dem im Jahr 2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sind u.a. Veränderungen in den Bereichen Kinderschutz, Fremdunterbringung, Sozialraumorientierung und Inklusion verbunden und werden das Arbeitsfeld in den nächsten Jahren weiter intensiv beschäftigen. Weitere Anforderungen wurden durch die Coronapandemie gestellt, deren Folgen nach wie vor spürbar sind. Die mit der Pandemie verbundenen Kontaktbeschränkungen haben teilweise Anpassungen in der Ausgestaltung der Hilfen erforderlich gemacht. Ein Beispiel ist die Zunahme von Beratungen in digitalen Beratungssettings und die dafür notwendigen konzeptionellen und organisatorischen Weiterentwicklungen. Aber auch andere Leistungsbereiche waren von Veränderungen in der Gestaltung des Hilfesettings oder der Intensität der Leistungen betroffen, z.B. bei coronabedingten Einschränkungen wie Kontaktbeschränkungen bei ambulanten Gruppenangeboten oder Angeboten in Kooperation mit Bildungseinrichtungen, bei denen Schulschließungen eine Rolle spielten.8 Eine weitere Herausforderung liegt im Bereich der unbegleiteten minderjährigen Ausländer:innen (UMA). Seit 2021 steigen die Inobhutnahmen dieser Gruppe wieder an, was sich auch in den Hilfen zur Erziehung bemerkbar macht.9 Der Anfang 2022 begonnene Krieg in der Ukraine hat ebenfalls Auswirkungen auf die Hilfen zur Erziehung. Die große Zahl geflüchteter Kinder und Jugendlicher, die überwiegend in Begleitung ihrer Mütter nach Deutschland kommen, müssen in vielfältiger Weise unterstützt werden - sei es bei der schulischen Bildung, bei der Integration in den Arbeitsmarkt oder bei der Bewältigung traumatischer Erlebnisse10. Neben den genannten Herausforderungen stellt sich der aktuelle Fachkräftemangel als große Schwierigkeit dar. Trotz eines deutlichen Stellenausbaus in den Hilfen zur Erziehung und im ASD in den letzten Jahren gibt es deutliche Rückmeldungen aus der Praxis zur angespannten Fachkräftesituation.11

Angesichts der anhaltenden Dynamik sowie wechselnder Trends im Arbeitsfeld ist ein differenzierter und regelmäßiger Blick auf die Datengrundlage zur Beobachtung der aktuellen Entwicklungen von zentraler Bedeutung. Ungeachtet jedoch der in den nächsten Jahren zu erwartenden Inanspruchnahmequoten werden auch die Hilfen zur Erziehung eine wichtige Unterstützungsleistung für junge Menschen und deren Familien sein. Die Gründe hierfür hat bereits die Sachverständigenkommission zum 14. Kinder- und Jugendbericht herausgearbeitet, in dem sie auch im Zusammenhang mit dem Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung eindrücklich die „Verschiebungen zwischen privater und öffentlicher Verantwortung im Aufwachsen von jungen Menschen in Deutschland“12 beschrieben hat. Dass der Auftrag der Hilfen zur Erziehung in diesem Zusammenhang umfassend ist, hat auch die Sachverständigenkommission zum 15. Kinder- und Jugendbericht noch einmal in Erinnerung gerufen: „Hilfen zur Erziehung (…) sollen für junge Menschen sozialpädagogische Umgebungen gestalten, die keine ausreichende soziale, emotionale und materielle Unterstützung erfahren, die in ihren persönlichen Rechten verletzt, Machtmissbrauch oder Gewalt erfahren haben, diskriminiert oder ausgegrenzt worden sind.“13

Literatur:

Andresen, S./Heyer, L./Lips, A./Rusack, T./Schröer, W./Thomas, S./Wilmes, J. (2021): Das Leben von jungen Menschen in der Corona-Pandemie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe. Gütersloh.

Böllert, K./Schröer, W. (2022): Kinder und Jugendliche jetzt unterstützen – Kinder- und Jugendpolitik angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine. In: Forum Jugendhilfe, H. 1, S. 62-64. 

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2023): Bericht der Bundesregierung über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland. Verfügbar über: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/226298/d7892947d8ee39cc1b91503ed9dd234c/bericht-der-br-unbegleitete-auslaendische-minderjaehrige-in-deutschland-data.pdf [04.07.2024]

Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe e.V. (2023): Fachkräftekrise in der Kinder- und Jugendhilfe. Notwendiger Handlungsbedarf zur Aufrechterhaltung systemkritischer Infrastruktur. Verfügbar über: https://www.bvke.de/publikationen/positionspapiere/fachkraeftekrise-in-der-kinder-und-jugendhilfe-ec140d81-7399-4dbb-abde-644686d99a11 [04.07.2024]

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Drucksache 17/12200. Berlin.

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Unterrichtung durch die Bundesregierung und Stellungnahme der Bundesregierung. Drucksache 18/11050. Berlin.

Erdmann, J./Fendrich, S. (2022): Rückgänge bei den ambulanten erzieherischen Hilfen im Jahr 2020. In: KomDat Jugendhilfe, H. 1, S. 8-12.

Senatsverwaltung Bildung, Jugend und Familie Berlin (2023): Dem Fachkräftebedarf in den Hilfen zur Erziehung (HzE) begegnen – gemeinsame Anstrengungen auf unterschiedlichen Ebenen erforderlich. Ergebnisse der länderoffenen Arbeitsgruppe Fachkräftebedarf und -sicherung im Bereich Hilfen zur Erziehung. Berlin.

Tabel, A. (2024): Hilfen zur Erziehung im Jahr 2022 – Anstieg bei Erziehungsberatung und begonnenen Fremdunterbringungen. In: KomDat Jugendhilfe, H. 1, S. 1-4.

Tabel, A./Frangen, V. (2022): Konsolidierung der Hilfen zur Erziehung im Jahr 2021. In: KomDat Jugendhilfe, H. 3, S. 4-7.

  1. Vgl. Tabel 2024
  2. Vgl. Tabel 2024
  3. Vgl. Erdmann/Fendrich 2022
  4. Vgl. www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/06/PD23_235_12411.html [Zugriff: 02.07.2024]
  5. Vgl. Tabel 2024
  6. Vgl. Tabel 2024
  7. Vgl. Andresen u.a. 2021; Tabel/Frangen 2022
  8. Vgl. Erdmann/Fendrich 2022
  9. Vgl. BMFSFJ 2023
  10. Vgl. Böllert/Schröer 2022
  11. Vgl. z.B. Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe e.V. 2023; Senatsverwaltung Bildung, Jugend und Familie Berlin 2023
  12. Deutscher Bundestag 2013, S. 336
  13. Deutscher Bundestag 2017, S. 434