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3. Lebenslagen der Adressat(inn)en von Hilfen zur Erziehung

3.2 Transferleistungsbezug

Der 14. Kinder- und Jugendbericht hat darauf hingewiesen, dass Armut und die damit verbundenen prekären Lebenslagen Risiken für die Erziehung beinhalten.1 Länderspezifische Analysen – wie im HzE-Bericht des Landes Nordrhein-Westfalen oder dem Landesbericht in Rheinland-Pfalz – verweisen zudem auf den Zusammenhang zwischen Armutslagen junger Menschen und der Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung.2

In der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik kann als Indikator für prekäre Lebenslagen der Bezug von Transferleistungen abgebildet werden. Berücksichtigt werden hierbei das Arbeitslosengeld II auch in Verbindung mit dem Sozialgeld (für Kinder), die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Rahmen der Sozialhilfe oder auch der Kinderzuschlag. Diese Angaben liefern Hinweise zur Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen durch Familien, die zumindest von Armut bedroht sind. Und in der Tat bestätigen die Ergebnisse der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik die Hypothese, dass es einen Zusammenhang von Armutslagen und einem erhöhten Bedarf an Leistungen der Hilfen zur Erziehung gibt.3

Die Analyse der Daten zeigt, dass mehr als jede zweite Familie, für die 2020 eine erzieherische Hilfe (ohne Erziehungsberatung) neu gewährt wurde, auf Transferleistungen angewiesen ist. Bei der Erziehungsberatung sind im Vergleich dazu lediglich 15% der Familien von Transferleistungen betroffen (vgl. Abb. 3.2). Differenziert nach den einzelnen Hilfearten variiert die ausgewiesene Gesamtquote zwischen 45% (Soziale Gruppenarbeit) auf der einen und 73% (Vollzeitpflege) auf der anderen Seite. Im ambulanten Hilfesetting sind für die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) und die Tagesgruppe mit 60% die höchsten Anteile festzustellen.

Bei einzelnen Hilfearten zeichnen sich mitunter größere Veränderungen im Vergleich zum Vorjahr ab. So ist der Anteil der Familien, die Transferleistungen beziehen, gerade bei neu gewährten Fremdunterbringungen zwischen 2019 und 2020 wieder angestiegen, und zwar bedingt durch die Zunahme bei der Heimerziehung und den stationären „27,2er-Hilfen“ (+2 Prozentpunkte). Seit 2016 ist diese Entwicklung in der Fremdunterbringung zu beobachten. Hier ist zu vermuten, dass sich dahinter der aktuelle Rückgang der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen in den Hilfen gem. §§ 33 und 34 SGB VIII verbirgt, zu denen eine eindeutige Auskunft zu der sozioökonomischen Situation der Herkunftsfamilie unter Umständen nicht möglich ist.

Das Verhältnis von Familien mit und ohne Transferleistungsbezug erhöht sich noch einmal deutlich im Hinblick auf Familien mit Transferleistungsbezug bei der anteilig größten Hilfeempfängergruppe, den Alleinerziehenden (vgl. hierzu auch Kap. 3.1). 66% der Alleinerziehenden, die eine Hilfe zur Erziehung erhalten, sind gleichzeitig auf staatliche finanzielle Unterstützung angewiesen. Das sind knapp 10 Prozentpunkte mehr als bei allen Familien, die erzieherische Hilfen erhalten. Differenziert nach den beiden Leistungssegmenten zeigt sich folgendes Bild: Im ambulanten Leistungsspektrum ist der Anteil der Alleinerziehenden, die Transferleistungen erhalten, mit etwa 68% bzw. 67% bei der Tagesgruppe und der SPFH am höchsten. Im Bereich der Fremdunterbringungen weist die Vollzeitpflege mit rund 78% den höchsten Anteil aus.

ABB. 3.2:

Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Transferleistungsbezug, Alleinerziehendenstatus und Hilfearten (Deutschland; 2020; begonnene Hilfen; Anteil in %)

Einschließlich der sonstigen Hilfen
Lesebeispiel: 15% aller Familien, die eine Erziehungsberatung erhalten, sind gleichzeitig auf Transferleistungen angewiesen. Von den Alleinerziehenden, die eine Erziehungsberatung nutzen, erhalten 22% Transferleistungen.
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2020; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Bei einer länderspezifischen Betrachtung der Familien mit Transferleistungsbezug in den Hilfen zur Erziehung für das Jahr 2020 werden Unterschiede zwischen den Bundesländern sichtbar. Generell weisen die ostdeutschen Länder sowohl bei der Erziehungsberatung als auch bei den vom ASD organisierten Hilfen einen höheren Anteil an Familien auf, die finanzielle Unterstützungsleistungen erhalten (vgl. Tab. 3.2).

Bei den Hilfen zur Erziehung (ohne Erziehungsberatung) liegen unter der für Deutschland ausgewiesenen Quote in Höhe von 56% die Ergebnisse für Bayern (40%), Baden-Württemberg (47%), Bremen (53%), Hessen (55%) und Rheinland-Pfalz (51%). Deutlich über dem Wert ist die Quote von Berlin (62%), Hamburg (63%), Mecklenburg-Vorpommern (62%), Thüringen (67%) sowie Sachsen (66%) bzw. Sachsen-Anhalt mit einem Anteil von 73%.

Bei der Erziehungsberatung reicht das Spektrum der Familien, die bei Beginn der Beratung einen Transferleistungsbezug angeben, von 10% in Hamburg bis zu 26% in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern.

TAB. 3.2:

Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Transferleistungsbezug im Vergleich zu der Mindestsicherungsquote1 in der Bevölkerung (Länder; 2020; begonnene Hilfen; Angaben absolut und in %)

BundeslandFamilien insgesamt in Erziehungsberatungen 2020 (abs.)Darunter Familien mit Transferleistungsbezug 2020 (in %)Familien insgesamt in Hilfen zur Erziehung 2020 (abs.)Darunter Familien mit Transferleistungsbezug 2020 (in %)Mindestsicherungsquote1 am Jahresende 2020
Baden-Württemberg 34.25112,419.36847,15,3
Bayern 36.81311,816.98640,24,5
Berlin 15.06012,714.88861,616,3
Brandenburg 9.18912,56.55356,27,7
Bremen 1.39025,92.78052,917,7
Hamburg 4.10510,18.35763,313,3
Hessen 18.35413,19.88855,28,4
Mecklenburg-Vorpommern 3.03426,44.64061,68,8
Niedersachsen 27.79414,919.51357,88,6
Nordrhein-Westfalen 69.96216,846.03257,610,9
Rheinland-Pfalz 12.49013,09.68050,96,8
Saarland 1.55113,02.29958,510,0
Sachsen 15.93918,47.38666,47,2
Sachsen-Anhalt 7.82725,84.58073,29,5
Schleswig-Holstein 14.67415,66.82558,99,1
Thüringen 7.85517,23.83266,76,7
Westdeutschland (einschl. Berlin)236.44414,2156.61654,68,4
Ostdeutschland43.84418,826.99164,37,8
Deutschland280.28815,0183.60756,08,3

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2020; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik; Statistische Ämter des Bundes und der Länder; für die SGB II-Daten: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Bestand Dezember (https://www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/mindestsicherung/b-12-empfaengerinnen-und-empfaenger-sozialer; Zugriff: 12.04.2022)

  1. Die Mindestsicherungsquote gibt die Empfänger:innen folgender Leistungen als Anteil an der Gesamtbevölkerung wieder: Leistungen nach dem SGB II, Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen nach dem SGB XII, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII, Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, laufende Leistungen der Kriegsopferfürsorge.

Vergleicht man ferner die Anteile der Hilfeempfänger:innen mit Transferleistungsbezug mit denjenigen in der Gesamtbevölkerung, die eine Mindestsicherung erhalten, um annäherungsweise einen Referenzwert hinzuzuziehen, zeigt sich zunächst die besonders sozioökonomisch prekäre Lebenslage von Empfänger:innen erzieherischer Hilfen, die über den ASD organisiert werden. Während im Jahr 2020 56% der Familien, die eine erzieherische Hilfe jenseits der Erziehungsberatung bekommen, gleichzeitig auf Transferleistungen angewiesen sind, erhalten 8% der Gesamtbevölkerung Leistungen der Mindestsicherung (vgl. Tab. 3.2).

Insgesamt betrachtet bildet sich mit Blick auf den Transferleistungsbezug ein ähnliches, wenn auch nicht so deutlich ausgeprägtes Muster bei den Bundesländern wie bereits bei den Alleinerziehenden ab: In den Ländern mit einer hohen Mindestsicherungsquote gibt es tendenziell auch einen höheren Anteil der Transferleistungen beziehenden Familien in den erzieherischen Hilfen. Für den Stadtstaat Bremen, Thüringen, Sachsen oder auch Sachsen-Anhalt lässt sich dies nicht feststellen.

Grundsätzlich zeigt sich in allen Bundesländern eine deutliche Überrepräsentanz der Hilfeempfänger:innen mit Transferleistungsbezug im Vergleich zu der Mindestsicherungsquote. Allerdings fallen auch hier – wie bereits bei den Alleinerziehenden – die Differenzen unterschiedlich aus. Zwischen den beiden Gruppen reichen diese von 35 Prozentpunkten in Bremen bis hin zu 64 Prozentpunkten in Sachsen-Anhalt (vgl. Tab. 3.2).

In den Fokus treten hier insbesondere die schwierigen Lebenskonstellationen von Alleinerziehenden, die überproportional in den Hilfen zur Erziehung vertreten sind und dazu noch besonders auf staatliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Signalisiert wird somit über diese Daten, dass der Familienstatus „Alleinerziehend“ offenkundig Systeme öffentlicher Unterstützung in besonderer Weise benötigt. So ist zwar sicher richtig, dass die Lebensform „Alleinerziehend“ nicht durchweg als problematisch anzusehen ist und auch differenzierter betrachtet werden sollte4, gleichwohl sind die zu bewältigenden Herausforderungen und Zuschreibungen vielfältig – Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsferne, fehlende soziale Unterstützung und Erschwernisse des Alltags mit Kindern5 – und können eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung gefährden. So muss auch die sozialpolitische Seite dieser Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden. Sozialstrukturelle Unterstützung, wie z.B. die Ausweitung und Flexibilisierung von Betreuungszeiten, um die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit zu geben, können mitunter den genannten Herausforderungen entgegenwirken. Grundsätzlich sind hier unterschiedliche Akteure und Agenturen des Bildungs- und Sozialwesens aufgefordert, miteinander zu kooperieren, um präventiv und aktiv gegen Multiproblemlagen von jungen Menschen und deren Familien anzugehen.6

Literatur:

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2020): Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. Bielefeld.

Binder, K./Bürger, U. (2013): Zur Bedeutung des Aufwachsens junger Menschen in spezifischen Lebenslagen für die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, 8. Jg., H. 8-9, S. 320-330.

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. Drucksache 17/12200.

Fendrich, S./Tabel, A. (2019): Hilfen zur Erziehung. In: Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport 2018. Eine kennzahlenbasierte Analyse. Opladen, Berlin, Toronto, S. 63-84.

Hammer, A. (2014): Befragung widerlegt Klischees über Alleinerziehende. In: Neue Caritas, H. 5, S. 21-24.

[Ism] Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gemeinnützige GmbH (2019): Hilfen zur Erziehung in Rheinland-Pfalz. Die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen im Kontext sozio- und infrastruktureller Einflussfaktoren. 6. Landesbericht 2019. Mainz.

[NZFH] Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.) (2020): Frühe Hilfen für Familien in Armutslagen. Empfehlungen. Beitrag des NZFH-Beirats. Köln. Verfügbar über: https://doi.org/10.17623/NZFH:K-FHfFA-Beirat; [08.04.2022].

Pinhard, I./Schutter, S. (2012): AID:A-Befunde zur Lebenssituation alleinerziehender Mütter. DJI Online. Verfügbar über: www.dji.de/index.php?id=42874&L=0; [19.02.2020].

Tabel, A./Pothmann, J./Fendrich, S. (2019): HzE Bericht 2019. Datenbasis 2017. Entwicklungen bei der Inanspruchnahme und den Ausgaben erzieherischer Hilfen in Nordrhein-Westfalen. Münster, Köln, Dortmund.

  1. Vgl. Deutscher Bundestag 2013, S. 107ff.
  2. Vgl. Tabel/Pothmann/Fendrich 2019, S. 107ff.; ism 2019, S. 200ff.
  3. Vgl. Fendrich/Tabel 2019, S. 70f.
  4. Vgl. Binder/Bürger 2013; Pinhard/Schutter 2012
  5. Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020, S. 40ff.
  6. Vgl. z.B. das NRW-Projekt „kinderstark – NRW schafft Chancen“ zum Aufbau und Stärkung kommunaler Präventionsketten (www.kinderstark.nrw; Zugriff: 02.12.2021); NZFH 2020; Hammer 2014