2. Inanspruchnahme und Adressat:innen der erzieherischen Hilfen
2.1 1.121.778 junge Menschen und ihre Familien erhielten 2020 erzieherische Hilfen
Am 29.10.2021 hat das Statistische Bundesamt die Daten zu den Hilfen zur Erziehung 2020 veröffentlicht. Demnach wurden rund 963.000 erzieherische Hilfen für unter 27-Jährige gezählt – rund 53.600 Fälle (-5%) weniger als im Vorjahr. Damit ist die Zahl dieser Unterstützungsleistungen nach einem kontinuierlichen Anstieg in den letzten Jahren erstmals seit 2008 zurückgegangen.1 Das gilt entsprechend für die Zahl der jungen Menschen unter 27 Jahren, die durch erzieherische Hilfen erreicht wurden. 2020 waren dies mit 1.121.778 Personen 4% weniger als 2019. Setzt man diese Zahl in Relation zur Bevölkerung, wurden 2020 – statistisch betrachtet – 692 junge Menschen pro 10.000 der unter 21-Jährigen von Hilfen zur Erziehung erreicht und somit weniger als im Vorjahr. Damit haben 7% dieser Altersgruppe eine Art von erzieherischer Hilfe erhalten.
Zwischen 2010 und 2019 stieg die Zahl der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung noch kontinuierlich um insgesamt 18%. Die bevölkerungsrelativierten Werte der Inanspruchnahme beider Altersgruppen (Minderjährige und junge Volljährige), bei der die Fallzahlen auf die Zahl der jeweiligen jungen Menschen bezogen wird, hatten sich bis 2018 angenähert. Von dem aktuellen Fallzahlenrückgang sind mit Blick auf die Hilfen zur Erziehung insgesamt sowohl Minderjährige als auch junge Volljährige mit einem bevölkerungsbezogenen Rückgang um 29 bzw. 30 Inanspruchnahmepunkte betroffen. Anders sieht es aus, wenn allein die über den ASD organisierten Hilfen ohne die Erziehungsberatung in den Blick genommen werden: Hier sind nur die Fallzahlen in der Gruppe der über 18-Jährigen gesunken (-9%), während die Zahl der erzieherischen Hilfen bei Minderjährigen gleichgeblieben ist. Das zeigt sich auch bei den bevölkerungsrelativierten Inanspruchnahmequoten.2
Ohne Erziehungsberatungen, die einen großen Teil der erzieherischen Hilfen ausmachen, wurden 2020 seitens der Jugendämter noch 683.326 junge Menschen gezählt, die von einer erzieherischen Hilfe erreicht wurden. Das sind etwa 1% weniger als im Vorjahr. Für den Zeitraum zwischen 2010 und 2019 betrug der Zuwachs der jungen Menschen in über die Allgemeinen Sozialen Dienste organisierten Hilfen (ohne Erziehungsberatung) 30%. Der Anstieg zwischen den Jahren ist zwischen 2015 und 2016 mit 5% am höchsten, darüber hinaus wurden Veränderungen zwischen +1% und +4% beobachtet.
Bei der Gesamtbetrachtung des Volumens von den am 31.12. andauernden und beendeten Hilfen erreichten jungen Menschen ist der zu beobachtende Rückgang zwischen 2019 und 2020 hauptsächlich auf die Entwicklung der beendeten Hilfen zurückzuführen. Diese sind um bemerkenswerte 8% zurückzugegangen, während bei den am 31.12. laufenden Hilfen kaum Veränderungen registriert wurden. Mit Blick auf die aktuelle Entwicklung im Coronajahr 2020 bedeutet das, dass Hilfen zur Erziehung unter Umständen eher fortgeführt als beendet wurden. Gleichzeitig wurden auch deutlich weniger neue Hilfen begonnen als in den Vorjahren (-9% gegenüber 2019). Das könnte auch mit den restriktiveren Mobilitätsanforderungen während des Lockdowns zusammenhängen.3 Zudem dürften beispielsweise Kontaktbeschränkungen einen erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung von erzieherischen Hilfen genommen haben.4
Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) (Deutschland; 2010 bis 2020; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik
Rückgang der Hilfen um 5% – vor allem Erziehungsberatung betroffen
Bei der Verteilung der Leistungssemente im Jahr 2020 nehmen erstmals seit vielen Jahren die über die Allgemeinen Sozialen Dienste organisierten ambulanten Hilfen (§ 27 in Verbindung mit §§ 29-32, 35 SGB VIII inklusive der „27,2er-Hilfen - ambulant“ sowie einschließlich der entsprechenden Hilfen für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII) den größten Anteil ein (41%) (vgl. Abb. 2.2). Diese haben somit die zuvor seit vielen Jahren den größten Anteil einnehmende Erziehungsberatung gem. § 28 SGB VIII abgelöst, die 2020 einen Anteil von 39% aller Hilfen ausmacht. Bei dieser ist erstmals nach dem kontinuierlichen Anstieg seit 2016 ein Rückgang der Beratungen von 38.403 gegenüber dem Vorjahr zu beobachten (-8%). An dieser Stelle nahmen die Kontaktbeschränkungen infolge der Coronapandemie erheblichen Einfluss auf die Angebotsmöglichkeiten und Inanspruchnahme von Beratungsleistungen vor Ort. Allerdings wurden in vielen Beratungsstellen auch verstärkt telefonische Beratungen angeboten5, die allerdings bislang nicht in die KJH-Statistik einfließen, sodass unklar ist, in welchem Umfang Beratungsprozesse tatsächlich eingeschränkt waren.
In den über die Allgemeinen Sozialen Dienste organisierten ambulanten Hilfen und den Fremdunterbringungen (§ 27 in Verbindung mit §§ 33, 34 SGB VIII inklusive der stationären „27,2er-Hilfen“ sowie einschließlich der Hilfen für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII) wurden 2020 zusammen rund 683.300 junge Menschen gezählt, dies sind 7.624 weniger als 2019 (-1%).
In den jeweiligen Leistungssegmenten sind unterschiedliche Entwicklungen zu beobachten: Im Jahr 2020 fand lediglich ein Anstieg bei den Zahlen der Kinder und Jugendlichen und deren Familien bzw. jungen Volljährigen bei den ambulanten Hilfen statt (+1%). Dieser Anstieg geht primär auf die bestehenden Hilfen zum 31.12. und insgesamt auf einen Zuwachs bei den ambulanten „27,2er-Hilfen“ und der sozialpädagogischen Familienhilfe gem. § 31 SGB VIII zurück. Bei den anderen Hilfearten sind hingegen Abnahmen der Zahlen festzustellen.
Demgegenüber wurden ähnlich wie bei der Erziehungsberatung im Rahmen von Fremdunterbringungen 5% weniger junge Menschen in den Hilfen gezählt. Damit setzt sich die Tendenz der seit 2017 leicht rückläufigen Fallzahlen in diesem Leistungssegment fort. Bereits zwischen 2016 und 2017 hatte die Wachstumsdynamik mit einem Plus von +4% gegenüber der Entwicklung 2015/16 (+11%) deutlich nachgelassen. Hilfeartspezifisch geht der aktuelle Rückgang auf gesunkene Zahlen in allen Bereichen des Leistungssegments zurück, wobei dies am stärksten auf die Abnahmen in den stationären „27,2er-Hilfen“ (-8%) und in der Heimerziehung (-7%) zurückzuführen ist. Der aktuelle Rückgang steht genauso wie der starke Zuwachs im stationären Bereich zwischen 2015 und 2016 in einem Zusammenhang mit den vor einigen Jahren gestiegenen und zuletzt wieder rückläufigen Zahlen bei den unbegleiteten Einreisen von ausländischen Minderjährigen.6 Die über den ASD organisierten ambulanten Hilfen und Fremdunterbringungen sind 2020 mit einem Anteil von insgesamt 61% gegenüber der Erziehungsberatung im Leistungsbereich der Hilfen zur Erziehung vertreten, wobei es mehr ambulante Hilfen (41%) als Fremdunterbringungen (20%) gibt. Das macht sich auch bei der Inanspruchnahme der Leistungen bemerkbar. 2020 nahmen 285 pro 10.000 der unter 21-Jährigen eine ambulante Maßnahme in Anspruch. Bei den Fremdunterbringungen sind es mit 137 jungen Menschen pro 10.000 derselben Altersgruppe deutlich weniger. Die bevölkerungsbezogene Inanspruchnahme ambulanter Leistungen ist im Vergleich zum Jahr 2019 um 2 Punkte gestiegen.
Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Leistungssegmenten (Deutschland; 2010 bis 2020; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik
Die bundesweite Entwicklung der erzieherischen Hilfen seit Beginn der 2000er-Jahre ist durch einen kontinuierlichen Zuwachs im ambulanten Leistungsfeld gekennzeichnet. Zumindest bis 2010 war ein Fortschreiten dieses Trends auszumachen. Danach war der Zuwachs bei den ambulanten Hilfen nicht mehr so stark ausgeprägt. Zwischen 2014 und 2016 haben dagegen vor allem Fremdunterbringungen zugenommen (vgl. Abb. 2.3):
- Die Zahl der Hilfen zur Erziehung hat sich zwischen 2000 und 2019 um 59% bzw. 59 Indexpunkte erhöht. Der Anstieg ist in dieser Dekade vor allem zwischen 2005 und 2010 mit einem Plus von 24 Indexpunkten auszumachen. Für das Jahr 2020 hat im Vergleich zum Vorjahr eine Abnahme der Indexpunkte stattgefunden (-7 Indexpunkte), weswegen sich die Zahl der Hilfen zur Erziehung zwischen 2000 und 2020 nur noch um 52% erhöht hat.
- Mit Blick auf die einzelnen Leistungssegmente wird zwischen 2000 und 2010 vor allem der Zuwachs an ambulanten Hilfen deutlich, die sich mehr als verdoppelt haben. Das bedeutet eine Zunahme um 105 Indexpunkte. Vor allem zwischen 2005 und 2010 ist ein besonders deutlicher Anstieg auszumachen (75 Indexpunkte). Von 2015 bis 2020 hat ein stärkerer Zuwachs um 36 Indexpunkte stattgefunden auf insgesamt 255 Indexpunkte.
- Fremdunterbringungen sind bis 2005 relativ konstant geblieben bzw. sogar leicht zurückgegangen. Zwischen 2000 und 2010 hat sich der Indexwert mit dem Basisjahr 2000 um 10 Punkte auf 110 erhöht. In den vergangenen Jahren war ein Anstieg der Fremdunterbringungen bis 2017 erkennbar. In den letzten beiden Jahren zeigt sich jedoch wieder eine Abnahme, sodass der Indexwert im Vergleich zu 2000 nur noch um 42% bzw. 42 Indexpunkte gestiegen ist. Trotz der Steuerungsstrategien der Jugendämter Anfang der 2000er-Jahre ist die Fremdunterbringung im Kontext der erzieherischen Hilfen in den letzten Jahren zwischenzeitlich wieder angestiegen, wenngleich die Zunahmen auf die gestiegene Zahl an unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (UMA) vor allem in den Jahren 2015 und 2016 zurückzuführen sind. Die Unterbringung sowie die Betreuung und Förderung dieser jungen Menschen wurde aufgrund ihrer Lebenssituation vor allem in stationären Settings der Kinder- und Jugendhilfe organisiert. Zuletzt war hier allerdings vor dem Hintergrund sinkender Zahlen von UMA-Fällen eine Trendwende zu beobachten.
- Die Erziehungsberatung, weist mit Blick auf den betrachteten Erhebungszeitraum zwischen 2000 und 2019 ein Plus von 16 Indexpunkten aus. Dieser Anstieg hat sich zwischen 2000 und 2005 vollzogen, während seitdem eine eher schwankende Entwicklung auszumachen ist. Zuletzt ist die Zahl der Indexpunkte von 2019 zu 2020 jedoch stark gesunken (-11 Indexpunkte).
Veränderung der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen gem. §§ 28-35 SGB VIII (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Leistungssegmenten (Deutschland; 2000 bis 2020; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Indexentwicklung 2000 = 100)1, 2
1) Die Werte basieren auf der Anzahl der jungen Menschen, die durch eine Leistung der Hilfen zur Erziehung erreicht werden, und nicht auf der Anzahl der Hilfen. Dies betrifft die Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII). In der amtlichen Statistik werden für die Hilfen gem. § 31 SGB VIII sowohl die Anzahl der Hilfen als auch die durch die SPFH erreichten jungen Menschen erfasst. Berücksichtigt werden hier die unter 18-Jährigen, weil vor der Modifizierung der Statistik im Jahr 2007 lediglich die unter 18-Jährigen bei dieser Hilfeart erfasst worden sind.
2) Bei der Erziehungsberatung werden lediglich die beendeten Hilfen berücksichtigt. Erst seit 2007 werden bei den Hilfen gem. § 28 SGB VIII auch die zum 31.12. eines Jahres andauernden Hilfen erfasst. Im Sinne der Vergleichbarkeit werden für 2010, 2015 und 2020 ebenfalls nur die beendeten Hilfen aufgeführt. Aus demselben Grund werden die Hilfen gem. § 27 SGB VIII (ohne Verbindung zu Hilfen gem. §§ 28-35 SGB VIII), die sogenannten „27,2er-Hilfen“, für diese Jahre nicht mitberücksichtigt; auch sie werden erst seit 2007 erfasst. Die Zahl der jungen Menschen mit einer „27,2er-Hilfe“ beträgt im Jahr 2020 86.579.
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik
2.1.1 Die Verteilung der Hilfearten im Angebotsspektrum der Hilfen zur Erziehung
Das Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung zeichnet sich durch ein breites Spektrum an beratenden, erziehenden und betreuenden Angeboten aus. Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Angebote war Teil der damaligen zentralen Neuerungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor etwa 30 Jahren. In der Folge sind die Hilfezahlen seit Anfang der 1990er-Jahre gestiegen und die rechtlich kodifizierten Leistungen haben sich in den lokalen Hilfesystemen etabliert. Die aktuelle Verteilung der Hilfearten verdeutlicht das heterogene Leistungsspektrum der Hilfen zur Erziehung, welches sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert hat (vgl. Abb. 2.4):
- Die aktuelle prozentuale Verteilung der Hilfearten verweist auf die quantitative Bedeutung der Erziehungsberatung, die mit einem Anteil von 39% einen großen Teil aller erzieherischen Hilfen ausmacht.
- Mit Blick auf die ambulanten Hilfen zeigt sich das erhebliche Gewicht der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH). Aktuell werden 24% der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung von dieser familienorientierten Leistung erreicht. Mit deutlichem Abstand folgen mit rund 7% die ambulanten „27,2er-Hilfen“ sowie Erziehungsbeistandschaften, die 5% aller erzieherischen Hilfen ausmachen. Demgegenüber nehmen soziale Gruppenarbeit, Betreuungshilfen, Erziehung in einer Tagesgruppe sowie intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) mit anteiligen Werten, die zwischen 1% und 2% liegen, eine vergleichsweise geringe Größe im ambulanten Leistungssegment ein.
- 20% der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung lebten 2020 im Rahmen einer Fremdunterbringung in einem stationären Setting oder in einer Pflegefamilie. Zahlenmäßig verteilen sich die Fremdunterbringungen zu etwa 11% auf die Heimerziehung und zu 8% auf die Vollzeitpflege. Der Anteil der Heimerziehung ist gegenüber 2019 etwas gesunken. Einen geringen Anteil von unter 1% nehmen stationäre „27,2er-Hilfen“ ein.
Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Hilfearten (Deutschland; 2020; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben in %, N = 1.121.778)
* Einschließlich der sonstigen Hilfen
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2020; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik
2.1.2 Die Inanspruchnahme nach Ländern
Mittels der Datengrundlage der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik lassen sich auch Differenzen auf der Ebene der west- und ostdeutschen Landesteile sowie der Länder abbilden. Dabei ist Folgendes für die Leistungssegmente zu konstatieren (vgl. Abb. 2.5):
- Erziehungsberatungen: Die bundesweite Verteilung der Leistungssegmente, bei denen Erziehungsberatungen einen großen Anteil an den Hilfen zur Erziehung ausmachen (vgl. Abb. 2.2; Abb. 2.5), gilt tendenziell auch für West- und Ostdeutschland. Mit Blick auf die Länder zeigt sich allerdings eine enorme Spannweite der Inanspruchnahme von Beratungsleistungen. In den westdeutschen Flächenländern reicht diese von 152 pro 10.000 der unter 21-Jährigen im Saarland bis hin zu 404 pro 10.000 der genannten Altersgruppe in Schleswig-Holstein. Das ist gleichzeitig der höchste Wert aller Länder. Auch die ostdeutschen Länder weisen eine erheblich unterschiedliche Inanspruchnahme der Erziehungsberatung von 151 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Mecklenburg-Vorpommern bis hin zu 334 in Sachsen auf. In den Stadtstaaten reicht die Spannweite von 150 pro 10.000 unter 21-Jährige in Bremen bis hin zu 339 in Berlin.
- Ambulante Hilfen: In allen Ländern werden mehr ambulante Leistungen als Fremdunterbringungen in Anspruch genommen. In den westdeutschen Flächenländern reicht die Spannweite der ambulanten Leistungen von 180 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Bayern bis hin zu 347 in Saarland. Auch zeigen sich Differenzen im Verhältnis von Fremdunterbringungen und ambulanten Hilfen, das einerseits in Thüringen bei 1 zu 1,5 und andererseits in Hamburg bei 1 zu 2,9 liegt. Unter den Stadtstaaten weist Berlin mit 497 pro 10.000 der jungen Menschen unter 21 Jahren den höchsten Wert mit Blick auf die Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen auf. In Ostdeutschland reicht die Spannweite der Hilfegewährung ambulanter Hilfen bevölkerungsbezogen von 222 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Thüringen bis hin zu 468 in Mecklenburg-Vorpommern.
- Fremdunterbringungen: Eine vergleichsweise eher geringe Inanspruchnahme von Fremdunterbringungen ist in den westdeutschen Ländern Bayern und Baden-Württemberg (79 bzw. 88 pro 10.000 unter 21-Jährige) festzustellen. Demgegenüber ist im Saarland (180), aber auch im Stadtstaat Bremen (254) eine höhere Inanspruchnahme der kostenintensiven Fremdunterbringung zu ermitteln, was auf eine höhere Problembelastung der Regionen verweist. Darüber hinaus sind hier tendenziell auch beträchtlichere Werte an ambulanten Leistungen zu identifizieren und damit ein insgesamt höheres Volumen an erzieherischen Hilfen.
Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) (Länder; 2020; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; 2020; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik
2.1.3 Zusammenfassung
Mehr als 1 Million Mal zählen die Jugendämter und Erziehungsberatungsstellen pro Jahr einen Fall der Hilfen zur Erziehung. In jedem einzelnen Fall sind die jeweiligen Hilfen eine Reaktion des Hilfesystems auf soziale Benachteiligungen bzw. individuelle Beeinträchtigungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen, die dazu führen, dass Teilhabe – oder konkreter: eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung – bei den einzelnen jungen Menschen nicht mehr gewährleistet ist. Damit erfüllt die Kinder- und Jugendhilfe einen wichtigen Teil ihres vom Gesetzgeber vor etwa 30 Jahren rechtlich vorgeschriebenen Handlungsauftrags.
Nicht alle Veränderungen in dem Arbeitsfeld sind dabei auf mittelbare oder unmittelbare Auswirkungen des SGB VIII zurückzuführen. So prägten rückblickend diverse Fachdiskurse dieses Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe – beispielsweise eine in unterschiedlicher Intensität geführte Kinderschutzdebatte seit Mitte der 2000er-Jahre oder auch die Diskussion um die Weiterentwicklung und eine zielgenauere Steuerung der erzieherischen Hilfen ab 2011, die zuletzt auch wieder im Rahmen eines Modernisierungsdiskurses zur Kinder- und Jugendhilfe aufgegriffen wurde.7 Auch gesellschaftliche Anforderungen haben in den Erziehungshilfen ihre Spuren hinterlassen, wie jüngst der kurzfristig stark angestiegene Bedarf an Unterbringung, Versorgung und Betreuung junger Menschen, die unbegleitet nach Deutschland geflüchtet sind.8 Die erzieherischen Hilfen haben sich infolgedessen insbesondere auch aufgrund des individuellen Rechtsanspruchs als eine wichtige Hilfe für junge Menschen und ihre Familien in prekären Situationen etabliert.
Seit Ende 2018 stehen die Hilfen zur Erziehung, aber auch die Hilfen für junge Volljährige im Rahmen des Dialogprozesses zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe mit den Themenschwerpunkten Kinderschutz, Inklusion, Fremdunterbringung und Sozialraumorientierung erneut im Vordergrund der Fachdebatte. Die umfangreiche Reform im Rahmen des im 10.06.2021 in Kraft getretenen „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ (KJSG) einhergehend mit Veränderungen von zentralen Elementen der Kinder- und Jugendhilfe wie 1. der Verbesserung des Kinder- und Jugendschutzes, 2. der Stärkung von Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen, 3. der Hilfe aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Sinne einer schrittweisen Weiterentwicklung hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe, 4. die Prävention vor Ort sowie 5. die Stärkung von Beteiligungschancen von jungen Menschen, Eltern und Familien wird auch auf die Hilfen zur Erziehung Einfluss haben.9
Aktuell ist das Feld der Hilfen zur Erziehung daher mit zwei Herausforderungen konfrontiert. Zum einen sind zentrale Änderungen bei der oben beschriebenen rechtlichen Rahmung und damit verbunden der Ausgestaltung der Hilfen notwendig. Zum anderen sind die Auswirkungen der Coronapandemie auch in den Arbeitsbereichen der erzieherischen Hilfen spürbar. Hier wurden Anpassungen in der Ausgestaltung der Hilfen notwendig. Ein Beispiel ist die Zunahme von Beratungen in digitalen Beratungssettings und die hierfür notwendigen konzeptionellen und organisatorischen Weiterentwicklungen.10 Aber auch andere Leistungsbereiche waren von Veränderungen in der Gestaltung des Hilfesettings oder der Intensität der Leistungen betroffen, z.B. bei coronabedingten Einschränkungen wie Kontaktbeschränkungen bei ambulanten Gruppenangeboten oder Angebote in Kooperation mit Bildungsinstitutionen, bei denen Schulschließungen eine Rolle spielten.11
Angesichts der anhaltenden Dynamik sowie wechselnder Trends im Arbeitsfeld ist ein differenzierter und regelmäßiger Blick auf die Datengrundlage zur Beobachtung der aktuellen Entwicklungen von zentraler Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als dass derzeit allein die weitere Fallzahlen- und Inanspruchnahmeentwicklung nach den erheblichen Zuwächsen in den letzten Jahren, aber auch den zuletzt deutlich zurückgegangenen Fallzahlen für junge Menschen mit Fluchterfahrungen als offen bezeichnet werden kann. Ungeachtet jedoch der in den nächsten Jahren zu erwartenden Inanspruchnahmequoten werden auch in den nächsten Jahren die Hilfen zur Erziehung eine wichtige Unterstützungsleistung für junge Menschen und deren Familien sein. Die Gründe hierfür hat bereits die Sachverständigenkommission zum 14. Kinder- und Jugendbericht herausgearbeitet, in dem sie auch im Zusammenhang mit dem Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung eindrücklich die „Verschiebungen zwischen privater und öffentlicher Verantwortung im Aufwachsen von jungen Menschen in Deutschland“12 beschrieben hat. Dass der Auftrag der Hilfen zur Erziehung in diesem Zusammenhang umfassend ist, hat auch die Sachverständigenkommission zum 15. Kinder- und Jugendbericht noch einmal in Erinnerung gerufen: „Hilfen zur Erziehung (…) sollen für junge Menschen sozialpädagogische Umgebungen gestalten, die keine ausreichende soziale, emotionale und materielle Unterstützung erfahren, die in ihren persönlichen Rechten verletzt, Machtmissbrauch oder Gewalt erfahren haben, diskriminiert oder ausgegrenzt worden sind.“13
Literatur:
[BKE] Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (2021): Zur SGB VIII-Reform. Die Weiterentwicklung der Erziehungs-, Familien- und Jugendberatungsstellen durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (verfügbar unter: www.bke.de/newsletter/220/index.html; Zugriff: 04.04.2022).
[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020a): Abschlussbericht Mitreden – Mitgestalten. Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe. Berlin.
Böwing-Schmalenbrock, M./Olszenka, N. (2021): Kinder- und Jugendhilfe im Überblick. In: Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport Extra 2021. Dortmund, S. 12-15.
Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. Drucksache 17/12200.
Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Unterrichtung durch die Bundesregierung und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin. Bundestagsdrucksache 18/11050.
Erdmann, J./Fendrich, S. (2022): Rückgänge bei den ambulanten erzieherischen Hilfen im Jahr 2020. In: KomDat Jugendhilfe, 25. Jg., H. 1, S. 8-12.
Fendrich, S. (2021): Weniger Erziehungshilfen – eine Folge von Corona? In: KomDat Jugendhilfe, 24. Jg., H. 1, S. 5-7.
Fendrich, S./Tabel, A. (2021a): Hilfen zur Erziehung (§§ 27 bis 35, 41 SGB VIII). In: Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport Extra 2021. Dortmund, S. 21-25.
Fendrich, S./Tabel, A. (2021b): Hilfen zur Erziehung 2019 – mehr Kinder, mehr ambulante familienorientierte Hilfen. In: KomDat Jugendhilfe, 24. Jg., H. 1, S. 6-10.
Fendrich, S./Tabel, A. (2021c): Hilfen zur Erziehung 2020. Rückgang als Folge der Coronapandemie? Dortmund. Verfügbar über: www.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/user_upload/Kurzanalyse_HzE_2020_AKJStat.pdf; [15.12.2021].
Mairhofer, A./Peucker, C./Pluto, L./van Santen, E./Seckinger, M. (2020): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI-Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. München. Verfügbar über: www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2020/1234_DJI-Jugendhilfebarometer_Corona.pdf; [26.08.2021].
Tabel, A. (2020): Empirische Standortbestimmung der Heimerziehung. Fachwissenschaftliche Analyse von Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik. Frankfurt am Main.
Wiesner, R. (2016): Reform oder Rolle rückwärts? Zu den Ankündigungen des BMFSFJ hinsichtlich der Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts. Vortrag im Rahmen der Veranstaltung „Vom Kind aus denken?! Inklusives SGB VIII“ am 14.06.2016 in Frankfurt am Main.
- 2007 wurde die Erhebungssysthematik umgestellt. Für dieses Jahr ist von Problemen bei der Umstellung auszugehen, so dass erst die Daten des Folgejahres 2008 zugrunde gelegt werden.
- Vgl. Fendrich 2021
- Vgl. Fendrich/Tabel 2021c; Fendrich 2021; in der Kinder- und Jugendhilfestatistik werden momentan telefonische Beratungen nicht erhoben, wohl aber Beratungen über das Internet.
- Diese Entwicklung zeigt sich auch bei neu gewährten Hilfen, die um 11% und damit noch deutlicher gefallen sind (vgl. Fendrich 2021).
- Vgl. BKE 2021
- Vgl. Tabel 2020; Fendrich/Tabel 2021b
- Vgl. u.a. Wiesner 2016; BMFSFJ 2020
- Vgl. Tabel 2020
- Vgl. Böwing-Schmalenbrock/Olszenka 2021
- Vgl. Fendrich/Tabel 2021a
- Vgl. Mairhofer u.a. 2020
- Deutscher Bundestag 2013, S. 336
- Deutscher Bundestag 2017, S. 434